SITUATED KNOWLEDGEJoëlle Pidoux18.11.18.12.2022

Finissage
18. Dezember 2022 16 – 18 Uhr

Situated Knowledge ist ein Konzept, das Wissen als einen abstrakten, absoluten und autonomen Wert in Frage stellt und seine Bedingtheit unterstreicht. Wissen ist in diesem Sinne nicht denkbar ohne den Ort, von dem es stammt, ohne die Geschichte, in die es sich einreiht, ohne den Körper, den es belebt – kurz, ohne den Kontext, dem es entspringt. Für Joëlle Pidoux‘ Ausstellung heißt das, dass auch die Kunst sich nicht betrachten lässt, ohne den Kontext, aus dem sie stammt sowie sich die Natur nicht betrachten lässt, ohne den Menschen als einen Teil von ihr. 

Sichtbar wird dies in der Kunsthalle Willingshausen, wo vier Videoarbeiten, ein verdrahteter Pilz und die in Brokat gewobene Abbildung eines prachtvollen Hahns zu sehen sind. Die Videos dokumentieren Prozesse der Nutzung von Natur, die Joëlle Pidoux vor Ort vorgefunden hat: Die forst- und landwirtschaftliche Nutzung von Wald und Feld, das Züchten von Feder- und Flossenvieh. Da ist die Hühnerzucht, die den Körper des Huhns über sich und seine pragmatischen Bestimmungen hinaus wachsen lässt, um ein Leben als rein ästhetisches Wesen, als lebendiges Objekt der Anschauung zu führen. Ähnlich der Zucht von Zierfischen aus aller Welt. Ihnen wird hier in der Schwalm mit der korrekten Wassertemperatur, dem adäquaten Salz- & Mineralstoffgehalt ein Tröpfchen Heimat und damit das Mindestmaß an Biotop zur Verfügung gestellt, das sie zum Leben brauchen. Im Wald sieht man den Harvester, diesen hungrige Holzvollernter, dessen technoider Körper durch die Fernsteuerung lebendig zu werden scheint. Sein Habitat ist so sehr der Wald wie der Traktor das Feld bewohnt und beackert. Die Elektroden, die an den Pilz im Ausstellungsraum angeschlossen sind, machen seine bioelektrische Aktivitäten sicht- und hörbar. Im Garten hinter dem Gerhard-von-Reutern-Haus tummeln sich seine Artgenossen ungestört auf Baumstamm und Komposthaufen. Pilze, die hier unbefangen plauschen und schmausen können. 

Mit Waschbetonplatten, einem hochverarbeiteten Industrieprodukt, verbindet Joëlle Pidoux beide Orte. Im Garten liegen sie gestapelt – unantastbar inmitten einer Welt von Mikroorganismen und Bakterien, die sich in einem ewigen Kreislauf von Biomasse nähren und so Nahrung für andere Organismen produzieren. Der Mensch ist Teil dieses Kreislaufs, auch er ist Biomasse. Im Kontrast zum Garten steht die Kunsthalle, die als cleaner, weißer Raum eine geordnete, hochentwickelte Zivilisation repräsentiert. Hier liegen die Waschbetonplatten als Weg, der eine Entwicklung versinnbildlicht. Zu sehen ist die menschliche Distanzierung von der Natur. Durch Zucht und optimierte Bewirtschaftung von Boden und Wald wurde der natürliche Kreislauf durchbrochen. Eine Abkürzung, die eine kurzfristige Maximierung von Erträgen zur Folge hatte. Der Zenit dieser Entwicklung ist jedoch längst überschritten: Das Klima wandelt sich, die Böden sind ausgelaugt, die Ressourcen werden knapp.

Joëlle Pidoux ist die 54. Stipendiatin, die in Willingshausen für drei Monate gelebt und gearbeitet hat. Die gebürtige Schweizerin beschließt nach Studienaufenthalten in Santiago de Chile, Rio de Janeiro und Lausanne aktuell ihr Kunststudium in Offenbach. Mit Video, Sound und Fotografie erarbeitet sie allein und im Kollektiv Blockadia* TiefseeInstallationen und Performances, die ökologische Themen in den Mittelpunkt stellen.

Marina Rüdiger