Halbe TageSelina Schwank15.8.30.8.2020

Kunsthalle Willingshausen

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Lustvoll auf Muscheln treten

Vor der offenstehenden Tür des Ausstellungsraums angekommen, stutzt man und weiß nicht, ob man den Raum betreten soll oder darf. Man hat den Eindruck, es handele sich hier um ein verlassenes Atelier, in dem Fenster und Türen längere Zeit offenstanden, gebrauchte Kleidungsstücke zurückgelassen oder von der Straße wie Treibgut hereingeweht wurden. Ein alter Kunststoffmattenrest hat es von der Wand bis zum Eingang geschafft. Zwar sind an den Wänden einige Zeichnungen und Fotografien hängen geblieben, aber die großen Lücken und die Spuren von Bildern, die hier offenbar mal hingen und abgenommen wurden, Nagellöcher, Schmutzspuren an der Wand und Bohrstaub auf den Fußleiten, lassen ein Verlassen vermuten. Genauso könnte es umgekehrt sein, dass jemand – offenbar eine Künstlerin – diesen Raum, ohne ihn zu renovieren, gerade für sich besetzt hat und mit einer Auswahl ihrer Arbeiten, Zeichnungen, Fotografien, Zeitungs- und Internetbildern, spezifisch gesammelten Gegenständen, einen Diskurs an der Wand, auf dem Boden und im Raum begonnen hat.

Traut man sich und sieht sich die Installation genauer an, entdeckt man sehr sensible Zeichnungen, manche kaum sichtbar, in einer ästhetischen wie argumentativen Ordnung. Sie zeigen in wässrigen Aquarellfarben gezogene Linien, manche glitzernd und schimmernd, die sich zu Blattgerippen, Bäumen, Gewächsen, Tentakeln von Quallen und anderem finden. So wie diese Papiere – übrigens alle tatsächlich auf der Straße gefunden – bezeichnet sind, formulieren sie ihren Gegenstand eher als Spur denn als Darstellung. Noch draußen vor dem Raum ist eine Rollzeichnung aufgehängt, die man vielleicht übersehen hat. Denn deren gemalte Zeichnung ist nur auf der Rückseite des Papiers zu sehen, macht also nur die Verwerfungen sichtbar, die die Wasserfarbe beim Malen im Papier hinterlässt. 

Was Selina Schwank besonders interessiert ist die Frage danach was Natur eigentlich ist, wie Menschen ihr ausgesetzt sind, wie sie deshalb eingreifen und sich eine neue, angeblich künstliche und sichere Natur bauen, die als solche auch wieder – nur – Natur ist. Wenn Menschen also, wie auf einem Internetfoto in schön bunter Farbigkeit in der Ausstellung zu sehen ist, Öltanker auf Grund fahren oder Bohrlöcher nicht verschließen und damit eine „Naturkatastrophe“ provozieren, wird die Natur eigentlich nicht zerstört, sondern – bösartig leichtsinnig und wissentlich durch die Menschen leider – „nur“ eine andere Natur hergestellt, ein totes Meer oder leere Wüsten. Geht es also hier nur um Ursache und Wirkung oder auch um Schuld und Verantwortung? Sind das moralische Fragen oder politische oder naturwissenschaftliche oder philosophische? Kann man die immer mehr von den Aktivitäten der Menschen bestimmte Veränderung unserer Erde einfach als natürliche, außerhalb jeglicher Ideologie stehende Evolution bezeichnen? Schließlich ist ein Mensch ja auch nur ein Teil der Natur, ein Stück Biologie, Chemie, Physik wie Pflanzen, Mineralien, Luft und Wasser.

All solche Fragen beschäftigen Selina Schwank. Ihre künstlerische Sprache dabei ist, den Widerspruch zwischen sinnlicher Erfahrung und Wissen, zwischen den Phänomenen und Strukturzusammenhängen dahinter aufscheinen zu lassen und erfahrbar zu machen. Das beginnt mit der Verunsicherung des Gehens durch die Kunststoffmatte am Eingang, die man betreten muss, wenn man die Ausstellung sehen will, über das neugierig und vorsichtig fragende Betrachten der Zeichnungen, die Gedanken über die metaphorische Bedeutung der Fotografien, z.B. der in einen Plastikmantel gehüllten Person, bis zu dem Schrecken, den ein im Internet gefundenes Foto von einer Schildkröte auslöst, die in einem Plastikgeschirr für Bierdosen aufgewachsen ist. Immer taucht dabei die Frage nach dem Verursacher auf. Bei der Firma CocaCola, die die Plastikstrohhalme hergestellt hat, die wie Girlanden leicht im Raum verhängt sind, die aber nicht recyclefähig – und deshalb inzwischen verboten sind, ist das noch einfach. Dort liegen die Gründe für die Produktion ja auch auf der Hand. Aber was ist mit den endlos vielen Verpackungen, mit den aus bunten Kunstfasern hergestellten Kleidungsstücken oder mit dem verführerischen Glimmer in Kinder-Shampoos?

Und wenn die Künstlerin ihren Finger in heißes Wachs taucht und trotz des Schmerzes fasziniert die feine Plastik beobachtet, die dabei entsteht, dann hat sie all die Widersprüche in einem. Diese kleinen Skulpturen liegen auf dem Fußboden verstreut, wo sie vielleicht von kaum einem wahrgenommen oder vielleicht auch unbeabsichtigt zerlatscht werden.

Und warum nicht lustvoll auf die verstreuten Muscheln treten, wenn das doch so ein tolles Geräusch macht? Muss man denn überall so genau hinsehen? 

Text: Bernhard Balkenhol 
Bild: Selina Schwank

www.selina-schwank.de