Fantasie aus tausend PerlenCharlotte Rahn29.4.28.5.2023

Finissage am 28. Mai 2023, 15 Uhr
Kunsthalle Willingshausen

Mit der Ausstellung „Fantasie aus Tausend Perlen“ schließt Charlotte Rahn ihren dreimonatigen Stipendienaufenthalt in Willingshausen ab. Der Ausstellungstitel stammt aus der Werbung für Rotkäppchen Sekt. Bei „Perlen“ denkt Charlotte jedoch nicht an Schaumwein, sondern an das veraltete Bild der Damen der Schöpfung, die ohne den Ehemann an ihrer Seite nicht vollkommen wären. Zu solchen Frauen sollten einst die Märchen erziehen, die Charlotte Rahn in der Ausstellung zitiert und denen sie aus ihrer zeitgenössischen, feministischen Perspektive auf den Zahn fühlt: Aschenputtel, Rotkäppchen und Rapunzel.

Bei Aschenputtel setzen drei junge Frauen alles daran, die Gunst des hübschen, wohlhabenden Prinzen für sich zu gewinnen. Sie quälen einander, verkleiden sich und hacken sich die Füße ab. Dem feinen Herren ist dabei nicht einmal zuzutrauen, die letztendlich Auserwählte an Gesicht, Größe oder Statur wiederzuerkennen. Nein, mit einem Schuh muss er durchs Land ziehen, um dafür den passenden Fuß zu finden. Charlotte Rahns Bild einer zeitgenössischen Aschenputtel-Figur erkennt man an den Taubenfedern, den Haselnüssen und den verführerischen Füßen.

Dem naiven Rotkäppchen bläut die Mutter ein, sie solle ja auf dem (rechten) Weg bleiben. Bei Rotkäppchens Zuwiderhandlung lässt die Lektion nicht lange auf sich warten. Der Wolf horcht sie aus und lauert ihr auf. Klein Rotkäppchen wird gefressen und überlebt nur durch die Rettung des holden Jägers. Ihr widmet Charlotte die Malerei mit dem bedrohlichen Schlund und den gefährlich gefletschten Wolfszähnen.

Rapunzel scheint zunächst von starken Frauenfiguren zu zeugen. Da ist die Mutter, die ihren Mann zwingt, ihr Rapunzel zu stehlen, um ihren schwangerschaftsbedingten Heißhunger zu stillen. Da ist die Hexe, der die Rapunzeln gehören, und die für den begangenen Raub die ungeborene Tochter des diebischen Paares einfordert. Die Tochter Rapunzel, die bei der Hexe aufwächst, wird mit der Pubertät in das Gefängnis eines fensterlosen Turms gesperrt. Ihre Rettung durch den Prinzen erinnert wieder daran: Im Märchen gibt es keine Frau als glückliches, selbstständiges Wesen. Eine Frau allein ist verbittert und verhärtet oder unvollkommen, verletzlich und bedroht. Im Märchen ist sie je nach Alter das Böse in Gestalt der frustrierten, kinderlosen Hexe oder die allzeit gefährdete, naive, unfertige Frau, der der Held – der Mann – noch fehlt.

Wo sonst könnte man sich der Auseinandersetzung mit der Rolle der Frau im Märchen besser widmen als in der Schwalm. Wo Ludwig Emil Grimm, der 1824 gemeinsam mit Gerhard von Reutern die MalerInnenkolonie Willingshausen gründete, sich für das Bild des Rotkäppchens an der Schwälmer Tracht orientierte. Wo Otto Ubbelohde, ebenfalls ein frühes Mitglied der MalerInnenkolonie, mit dem Turm des Schlosses Amönau den Sitz der verdammten Rapunzel malte. Und wo jede Familie von einer starken Schwälmer Frau zu berichten weiß, die alles zusammenhielt und hält.

Die beiden Malereien Aschenputtel und Rotkäppchen nehmen die Form von gotischen Fenstern auf. Dem Märchen Rapunzel widmet Charlotte eine Malerei, die sich an der Beschaffenheit einer Tür orientiert. Diese Elemente verweisen auf das Haus als zentrales Motiv der Ausstellung, das im Mittelpunkt der Inszenierung steht. Das Blinken und Leuchten aus dem Inneren des Glashauses lässt an eine Disco denken, die einst zum Tanzen einlud und nun von einem hungrigen künstlichen Wald verschluckt wurde. Aus dem Haus heraus klingen die Formeln der Märchen wie verstörend verlockende Drohungen: „lass dein Haar herunter“, „Ruckedigu Blut ist im Schuk“ oder „die guten ins Töpfchen die schlechten ins Kröpfchen“.

In ihren Malereien, Skulpturen, der Sound- und Hausinstallation überzeichnet und überspitzt Charlotte Rahn das motivische Material, das ihr die Märchen geben. Der Wald, sein Gestrüpp und Geäst, seine Klänge und Wesen – alles wird in die Künstlichkeit von grellen Farben, die Materialität von Plastik, Kunsthaar und das Lichtspektrum von Neon LEDs getaucht. Die unheimliche Stimmung, die Charlotte Rahn so im Raum entstehen lässt, holt die Märchen in die Gegenwart und thematisiert dabei die Auswirkungen der schrillen Utopien von damals auf soziale Strukturen von heute.

Charlotte Rahn ist die 55. Stipendiatin des Stipendienprogramms der MalerInnenkolonie Willingshausen. Sie kommt aus Kriftel im Vordertaunus und lebt in Offenbach am Main. An der Hochschule für Gestaltung in Offenbach hat sie von 2011 bis 2020 visuelle Kommunikation im Fachbereich Bildende Kunst bei Prof. Gunter Reski und Prof. Juliane Rebentisch studiert. Das Stipendium Willingshausen wird unterstützt von der Sparkassen Kulturstiftung, der SV SparkassenVersicherung und der Kreissparkasse Schwalm-Eder, dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, dem Landkreis Schwalm-Eder sowie die Gemeinde Willingshausen.

Text: Marina Rüdiger